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Die Geschichte von Moritz, dem Holzpferd

Jim hatte nicht viele Spielsachen in seiner Heimat, aus der er mit seinen Eltern fliehen musste. Seine Eltern hatte er unterwegs verloren. Der weise Zabu nahm sich seiner an und machte ihn zu seinem Begleiter. In der großen Stadt in dem großen Land trafen sie auf Dich und Du nahmst sie mit nach Hause.

Jims Lieblingsspielzeug war ein aus Holz geschnitztes Pferd, das er Moritz genannt hatte.

„Woher hattest Du denn dein Pferdchen?“, fragst Du ihn an Eurem zweiten Abend. Ihr sitzt wieder auf den von der Sonne aufgewärmten Steinen vor Eurem Haus.

„Neben unserem Haus wohnte mein Freund Flo. Flo hatte viel längere Haare als ich. Flo war wirklich ein guter, immer hilfsbereiter Freund. Flos Vater war Schreiner und kannte sich im Umgang mit Holz sehr gut aus. Als er mir das Holzpferd schnitzte, war das das schönste Geschenk, das ich jemals bekommen hatte. Ich hatte es immer bei mir. Und in jeder freien Minute spielte ich mit dem Pferdchen. Moritz habe ich ihn genannt, weil ich mal gehört habe, wie ein großes Mädchen ihr schwarzes Pferd Moritz rief. Das hat mir sehr gefallen. Ich habe mir immer vorgestellt, wie ich auf Moritz reiten kann und Abenteuer erlebe.

Flos Vater hätte auch Moritz heißen können. Von Max und Moritz.

„Wer sind Max und Moritz?“, wirst Du fragen.

Von denen werde ich Dir ein andermal erzählen.

Jedenfalls hat Flos Vater den Leuten in seiner Nachbarschaft eine Menge Streiche gespielt. Auch uns. Der Beste war der:

Eines Tages, nachdem die Müllabfuhr unsere Mülltonne geleert hatte, legte er ein Brett in die Mülltonne gelegt. Das hatte er so zurechtgeschnitten, dass es in die Tonne fiel und 15 cm unterhalb des Randes hängen blieb. Dann hat er ein bisschen Müll drübergelegt. Und schon sah es so aus, als sei die Mülltonne schon wieder voll.

Verraten hat er sich, als mein Vater bei ihm nachfragte, ob seine Mülltonne gestern auch nicht geleert worden sei. Da hat er sich schlapp gelacht.

Da hat sich mein Vater gedacht: Das lasse ich mir nicht gefallen.

Gedacht, getan: Er schleppte also am nächsten Mülltag die Tonne von Flo´s Vater vor dem Leeren in seine Garage und stellte sie dem Nachbarn erst wieder vor die Türe, als der Müllwagen wieder weg war.

Flos Vater wollte sich das nicht gefallen lassen. Und so spielten sich die beiden gegenseitig Streiche, bis meiner Mutter mal der Kragen platzte:

Sie stellte Flos und meinen Vater auf der Straße zur Rede.

Zu Flos Vater sagte sie: „Du hast nur Spööcks im Kopp.“

„Spööcks?“, wirst Du fragen. „Was ist das denn?“

„ Das ist ein Ausdruck für lustigen Unsinn“, erklärt Jim.

„Ein passender Ausdruck“, antwortest Du. „Also hatte Flos Vater Unsinn im Kopf.“

„Im Kopp“, korrigiert Jim. „Meine Mutter sagte im Kopp. Und zu meinem Vater: Bei Dir piept´s wohl.“

Die Nachbarn hatten ihre helle Freude daran, dass die beiden gestandenen Männer mit gesenkten Häuptern die Schelte meiner Mutter ertragen mussten.

Und sie hörten immer wieder Kopp und Piep.

Seither hießen die beiden in der Gegend nur Piep und Kopp.

„Piep und Kopp, wie lustig“, sagst Du. „Hört sich an wie Piepekopp.“

„Was ist denn aus Moritz geworden?“, fragst Du schließlich.

Jim guckt in den Abendhimmel und denkt wohl an die schöne Zeit mit seinem Holzpferdchen zurück.

„Bei einem schweren Sturm während unserer Flucht ist er weggeweht worden. Ich hatte Moritz immer beim Einschlafen in der Hand. Wir schliefen draußen.

Er muss mir im Schlaf wohl aus der Hand gefallen sein. Und bei der ersten starken Sturmbö ist er weggetragen worden. Als wir uns vor dem stärker werdenden Sturm in einen Unterstand retten mussten, blieb keine Zeit, nach ihm zu suchen. Ich vermisse Moritz wirklich sehr.“

Jim guckt jetzt sehr traurig.

„Ein Holzpferd kann doch gut schwimmen. Können echte Pferde ja auch. Vielleicht hat ihn der Sturm hinaus aufs Meer getragen und er wird irgendwo angeschwemmt. Dann findet er vielleicht zu Dir zurück“, versuchst Du zu trösten.

„Daran glaube ich nicht“, sagt Jim.

„Musst Du ja nicht. Kannst Du aber. Gibt doch immer mal wieder ein Wunder.“

„Ja, das kommt vor“, sagt Jim, jetzt schon etwas zuversichtlicher.

„Pass auf“, sagt er. „Jetzt zeige ich Dir was, das grenzt an ein Wunder. Hat Zabu mir gezeigt und ich habe Dir ja gestern versprochen, dass ich Dir das heute zeigen werde.“

Er steht auf und geht auf den großen Apfelbaum auf der Wiese vor Eurem Haus zu.

„ Siehst Du die Sichel des Mondes dort oben?“ fragt er.

Er steht jetzt noch ein paar Meter vor dem großen Apfelbaum.

Von Deinem Sitzplatz aus sieht es so aus, als hätte er sich dem Mond genähert. Du legst Dich auf den Bauch und schaust zu Jim auf.

„Sag mal, wie ich die Hand halten soll, so dass es aussieht, als ob ich den Mond berühre“, ruft Jim.

Er zieht die Kordel, die seine Hose hält, heraus und hält ein Ende der Kordel hoch in seiner rechten Hand. Die streckt er jetzt in Richtung unterem Ende der Mondsichel aus. Für Dich sieht es aus, als berühre die Hand den Mond.

Dann lässt er die Kordel baumeln, als hinge sie an der Sichel.

„Das ist toll“, rufst Du. „Es sieht so aus, als könntest Du den Mond berühren. Und deine Kordel hängt am Mond dran“.

„Reine Phantasie. Aber sieht echt aus, oder?“

„Total echt“, sagst Du begeistert und bewunderst, was Jim sich gerade ausgedacht hat.

„Wenn ich gleich schlafen gehe, werde ich träumen, dass ich an Deiner Kordel hoch klettere und mich in die Sichel hineinlege. Wie in einen gemütlichen Sessel.“

„Das ist ein tolle Idee“, sagt Jim. „Als wenn Dream works.“

„Dream was?“, fragst Du.

„Dream works. Was das bedeutet, erzähle ich Dir ein andermal.“

„Lass uns schlafen gehen und träumen“, sagst Du. „Gute Nacht, Jim. Das war schön.“

„Gute Nacht.“

Horst Piepenburg
25. Dezember 2018