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Der erste Abend mit Jim

Nach dem Abendbrot, zu dem Zabu und Jim zu Euch nach Hause gekommen waren, hatte Zabu viele Fragen zum Leben im Gute-Laune-Land gestellt. Deine Eltern wiederum hatten viele Fragen an den weisen Zabu. Das wurde Jim und Dir dann doch etwas zu lang.

Jetzt sitzt Du mit Jim draußen vor dem Haus auf dem Boden. Die Steine sind von der Sonne aufgewärmt. Die Sonne ist gerade untergegangen. Es ist aber noch hell genug, auf die Wiese vor Eurem Haus zu schauen. Das Gras ist grün und die Bäume voller Obst. Vorne in der Wiese steht ein großer prächtiger Apfelbaum. Die Äpfel glänzen im letzten Tageslicht rot und grün.

„Es ist wirklich schön bei Euch“, sagt Jim.

„Finde ich auch“, antwortest Du. „Vermisst Du Dein Zuhause?“

„Ja, aber zum Schluss war es nicht schön. Da war vom Krieg schon viel kaputt am Haus. Wir waren froh, dass wir heil weggekommen sind.“

„Du hast gar keine Spielsachen bei Dir. Musstest Du die alle zurücklassen?“

„Viele waren es nicht. Am meisten vermisse ich mein geschnitztes Pferd aus Holz.“

Und dann erzählt Jim, wie er mit dem Holzpferd vor dem Haus und in der Küche gespielt hat, dass er es Moritz genannt hat und wie er sich vorgestellt hat, was er mit dem Pferd so alles machen kann. Meistens wollte Jim mit Moritz die tollen Abenteuer erleben, die ihm der Vater über seine Erlebnisse mit Pferden erzählt hat.

Einmal war der Vater in Ägypten bei den großen Pyramiden. Da hat er einen schwarzhaarigen Jungen angesprochen, der vor einem weißen Haus mit flachem Dach zwei Pferde hütete:

„Das sind ja zwei prächtige Pferde“, sagte mein Vater. „Darf ich eines davon mal reiten?“

„Da muss ich meinen Vater fragen“, antwortet der Junge, der sich mit Halef vorstellte. Das ist arabisch und bedeutet „Nachfolger“. Halef lief ins Haus und kam mit seinem Vater zurück. Der Vater hieß Hafi. Und das bedeutet „freundlicher Gastgeber“. Hafi machte seinem Namen alle Ehre und lud meinen Vater nach einem kurzen Gespräch in sein Haus und bot ihm heißen Tee in einem kleinen Glas an. Hafi und mein Vater waren etwa gleichen Alters und verstanden sich gleich gut. Hafi schwärmte von seinen beiden Pferden. Es waren zwei schwarze Araberhengste, ausdauernd und rassig. Hafi bot schließlich an, dass mein Vater eine Proberunde mit Halef um die Pyramiden reiten sollte. Hafi wollte sehen, ob mein Vater überhaupt reiten konnte. Nun hatte meine Vater nie richtig reiten gelernt. War aber trotzdem immer gerne mit Freunden ausgeritten.

Mein Vater stieg also auf einen der beiden Rappen, so nennt man schwarze Hengste. Er hielt die Zügel straff und schlug mit seinen Schuhhacken leicht in die Seiten seines Pferdes. Sogleich galoppierte das Pferd aus dem Stand los. Ohnehin die Gangart, die meinem Vater am besten gefiel. Das lag vor allem daran, dass er die anderen gar nicht beherrschte. Beim Trab hoppelte er immer ein bisschen peinlich auf dem Pferderücken hin und her.

Mit Halef an seiner Seite galoppierte er tatsächlich in Windeseile durch den Sand und um die Pyramiden herum. Mein Vater wollte gar nicht mehr absteigen. Mit Hafi vereinbarte er einen Reitausflug für den nächsten Tag. Halef sollte meinen Vater begleiten.

Und so ging es am nächsten Tag kurz nach Sonnenaufgang von Gizeh aus Richtung Süden. Der Weg führte an zahlreichen Pyramiden vorbei. Schließlich kamen Halef und mein Vater zu einer etwas verfallenen Pyramide, die schon ziemlich vom Wüstensand bedeckt war. Sie stiegen von ihren Pferden und wurden von dem ägyptischen Wächter dieser Pyramide begrüßt. Der bot erst einmal Tee an und erzählte dann, dass man diese seltsam verfallene Pyramide tatsächlich besichtigen könne. Gegen ein kleines Bakschisch, etwas Geld für eine Gefälligkeit. Mein Vater willigte ein und sein Abenteuer begann jetzt erst richtig.

Der Wächter ging mit meinem Vater um die Pyramide herum und dann einen schmalen Weg hinunter zu einer kleinen Öffnung am Boden. Dort legte sich der Wächter auf den Rücken und machte meinem Vater vor, wie er in die Pyramide hineinkam. Er ging vor. Also: „Ging“ stimmt jetzt nicht so ganz. Er lag ja auf dem Rücken und robbte sich – das Gesicht oben – mit den Händen an den Wänden des schmalen Eingangs unter die Steine der Pyramide. Und verschwand schließlich ganz darin. Von drinnen hörte mein Vater ihn mit dumpfer Stimme rufen, er solle jetzt nachkommen.

Also legt sich auch mein Vater auf den Rücken und zog sich mit den Händen in das Loch. Mehrere Meter ging es langsam voran. Die Nase meines Vaters berührte die mehrere tausend Jahre alten Steine der Pyramide über ihm.

Er dachte, wenn der Wächter mich jetzt gleich an den Füßen reinzieht, mir auf den Kopf haut, werde ich nie mehr gefunden. Vielleicht erst in ein paar tausend Jahren.

Aber nach einer weiteren Minute war der Gang zu Ende und der Wächter führte meinen Vater durch mehrere Gänge zu einer Anzahl kleiner, aber mannshoher Räume. Die Wände waren ganz bunt bemalt.

„Moment“, sagst Du. „Gab es denn Licht im Inneren der Pyramide?“

Der Wächter hatte in der Pyramide einen kleinen Papiervorrat angelegt. Er rollte mehrere Papiere zusammen und zündete sie an. Im Feuerschein konnte man ganz gut sehen.

Die Wandmalereien zeigten das Leben eines Ägypters in alter Zeit. Der Wächter sagte, der habe Sennefer geheißen. Das habe er aus den Schriftzeichen, den Hieroglyphen, entziffern können. Und dann begann er das Leben des Sennefer zu erklären. Immer an Hand der verschiedenen bunten Bilder an der Wand: Sennefer, Sennefer mit Frau, Sennefer mit Kind, Sennefer mit Frau und Kind. Sennefer auf Schiff, Sennefer auf Pferd, Sennefer auf dem Feld.

Mein Vater hatte den Eindruck, dass er schon perfekt ägyptisch konnte: er verstand alles auch ohne die Erläuterungen des Wächters.

Als das Papier zu Ende zu gehen drohte, machten sich beide auf den Rückweg.

Erleichtert erspähte mein Vater den Lichtstrahl durch den schmalen Gang raus aus der Pyramide. Aber er war sehr glücklich, dieses Kleinod in einer fast vergessenen Pyramide gesehen zu haben. Er sprudelte nur so vor Begeisterung, als er Halef wieder traf, der die Pferde versorgt hatte. Nach einem weiteren Tee und etwas zusätzlichem Bakschisch für Munir machten sich die beiden mit ihren Rappen wieder auf den Rückweg gen Norden. Munir hieß der Wächter. Und Munir bedeutet „der Leuchtende“.

Nach etwa drei Stunden hielt Halef sein Pferd an und schlug ein Wettrennen vor. Er zeigte auf eine sanfte Anhöhe, hinter der sich der blaue Himmel abzeichnete. „Bis da oben. Aber da oben musst Du dein Pferd sehr plötzlich anhalten.“ Auf die Frage meines Vaters: „ Warum?“, antwortete er nur: „Du wirst schon sehen.“

Also gaben sie ihren Pferden auf „drei“ die Sporen und galoppierten die Anhöhe hinauf. Die schwarzen Araberhengste lieferten sich ein Kopf- an Kopfrennen. Der Wüstensand stob nur so hoch unter ihren Hufen.

Natürlich hat Halef gewonnen. Und mein Vater erkannte oben, warum er plötzlich anhalten sollte:

Sie standen auf einer Anhöhe oberhalb der Ebene der Pyramiden von Gizeh und hatten von da oben einen perfekten Blick auf die großen Pyramiden und die Sphinx. Mein Vater fühlte sich wie Lawrence von Arabien oder Kara Ben Nemsi.

„Sphinx? Lawrence? Kara? Wer sind die denn?“

„Das erzähle ich Dir ein andermal“, antwortet Jim. „Es ist ja schon dunkel. Sieh mal die Sterne. Und der Mond sieht aus wie eine Sichel. Morgen zeige ich Dir mal was Tolles. Das hat mir Zabu gezeigt. Da kannst Du Dich schon drauf freuen. Und ich werde Dir erzählen, wie ich zu meinem Holzpferd kam, wie ich es verloren habe und was mein Vater mit Halefs Vater Hafi noch erlebt hat.

Gute Nacht.“

„Gute Nacht, Jim. Das war ein aufregender Tag heute. Ich bin so froh, dass ich Dich heute getroffen habe. Ich werde jetzt bestimmt davon träumen, dass ich auf einem schwarzen Araberpferd reite.“

So endet Jims erster Tag im Gute-Laune-Land mit Dir.

Schlaf schön.

Horst Piepenburg
23. Dezember 2018